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Die evangelischen Christ*innen schaffen sich ab. Was den Trend umkehren könnte.

Im Jahr 2022 sind so viele evangelische Christ*innen aus der evangelischen deutschen Kirche ausgetreten, wie noch nie zuvor, nämlich etwa 380 000. Das sind etwa 40.000 mehr als im Jahr 2021.

Im Jahr 2022 waren damit in Deutschland insgesamt 19,1 Millionen Deutsche evangelisch was 22,7% der Gesamtbevölkerung entspricht. Die evangelische Kirche verlor in diesem Jahr insgesamt etwa 575 000 Mitglieder. Die einen traten aus der Kirche aus, die anderen sind einfach gestorben. Die Anzahl der Mitglieder ging damit um 2,9% zurück.

Was etwas paradox klingt, ist, dass die Einnahmen durch Kirchensteuer gestiegen sind, was daran liegt, dass viele Kirchenmitglieder gerade mitten im Beruf stehen oder sich in einer Phase des Lebens befinden, in der sie verhältnismäßig viel verdienen, so dass dadurch auch der Anteil, der auf die Kirchensteuer entfällt relativ hoch ist.

Im Jahr 2022 kamen allerdings auch neue Mitglieder dazu. Insgesamt 184 000 neue Mitglieder, wobei 165.000 davon durch Taufe dazu kamen, 19000 einfach so (wieder) in die Kirche eingetreten sind.

575 000 Mitglieder sind also ausgetreten oder verstorben, 184 000 sind neu dazugekommen. Für drei Mitglieder, die die evangelische Kirche verlassen, kommt also ein neues Mitglied in die Kirche. Drei treten aus oder sterben, ein neues kommt dazu.

Was aber sind die Gründe für den Austritt?

Ich könnte hier einfach nur mal spekulieren.

Die Bindung an die Kirche dürfte generell zurückgegangen und eine gewisse Skepsis gewachsen sein, welche aufgrund des Missbrauchsskandals hauptsächlich in der katholischen Kirche auch auf die evangelische Kirche möglicherweise von einige Menschen übertragen wird.

Ein großer Punkt dürfte aber wahrscheinlich wirklich die Bindung sein, die nachlässt. Die Zeit während Corona hatte man sich dran gewöhnt, nicht in die Kirche zu gehen, und wie wir alle wissen, sind wir ja auch Gewohnheitstiere. Und so stellen sich einige Menschen vielleicht neue Fragen: Sonntags in die Kirche gehen, obwohl man auch ausschlafen könnte? Die ganze Familie aktivieren, um den Frühstückstisch rechtzeitig zu verlassen und sich in der Kirche eine Predigt anzuhören? Alternativ könnte man natürlich Online-Formate nutzen, aber wenn man die Offline-Formate nicht nutzt, hat man vielleicht auch nicht so viel Interesse an Online-Formaten.

Was könnte man also tun?

Online-Formate sind sicher nach wie vor wichtig, denn die Schwelle, sie zu nutzen, ist doch deutlich niedriger, als sich irgendwohin begeben zu müssen. Andererseits ist die innerliche Bindung an Online-Formate wohl auch geringer, als wenn man in einer Kirche vor Ort Kontakt mit den Räumlichkeiten und den Menschen dort bekommt und aufbaut.

Möglicherweise sind einige Predigten und Gottesdienste zu formal und zu sehr oldschool, die zwar den verstorbenen Menschen noch einiges gegeben haben, der jüngeren Generation aber vielleicht fremd sind. Auch die Zeiten der Gottesdienste sind dieser Generation womöglich unbequem. Zudem sind Kirchenlieder und ihre Texte zwar sicher kulturell äußerst bedeutsam, aber viele Texte und Melodien, die dann vielleicht aus dem 17. oder 18. Jahrhundert stammen, haben womöglich auch eher die ältere Generation angesprochen, die mittlere und jüngere Generation erreichen sie aber vielleicht nicht mehr.

Was könnte man also tun?

Ein ganz zentraler Punkt wäre, das Gefühl anzusprechen. Dies geschieht über persönliche Kontakte, über die Gestaltung der Gottesdienste, über die Sprache und über die Musik.

Wer singt, betet zweimal, so formulierte es Martin Luther, der im evangelischen Bereich die Kirchenmusik gewissermaßen erfunden hatte. So sollte das heute auch wieder sein. Man bräuchte einen großen Schatz an Liedern, der inhaltlich gut und treffend ist, aber in einer modernen Sprache formuliert und, ganz besonders wichtig, melodisch so aufbereitet, dass diese Melodien einen durch den Tag begleiten. Dieser komplette Liederschatz müsste auch jederzeit verfügbar sein, beispielsweise auf Plattformen wie YouTube, wo jeder darauf Zugriff hätte und man diese Lieder zudem teilen könnte.

Die Sprache. Auch, wenn Luther natürlich Großes geleistet hatte durch seine Bibelübersetzung ins Deutsche, wollte er damals dem Volk doch aufs Maul schauen, also so formulieren, wie das Volk sprach. Wenn man sich heute die im Grunde 500 Jahre alte Luther-Übersetzung der Bibel durchliest, entspricht diese aber nicht mehr der Sprache des Volkes. Sie erreicht die Menschen also nicht mehr. Sie mag kulturell bedeutsam und hochwertig sein, erfüllt aber ihren Zweck nicht mehr. Dementsprechend müssten im evangelischen Bereich, so schwer es fallen mag, modernere Übersetzungen die alten Luther-Übersetzungen ersetzen, beispielsweise die Bibelübersetzung gute Nachricht, die gute lesbar und verständlich ist. Nicht die Luther-Übersetzung wäre also künftig identitätsstiftend, sondern die gedankliche Freiheit, die für die evangelische Kirche lange charakteristisch war und auch weiterhin charakteristisch bleiben sollte.

Verständlichkeit, Authentizität und Emotionalität sollte und muss auch ein zentraler Aspekt in Gottesdiensten werden. Menschen müssen sich dort wiederfinden in der Art und Weise, dass sie spüren, sie sind gemeint. Sie sollen also nicht in einem Gottesdienst sitzen und tief in sich drin das Gefühl haben, das ist eigentlich nichts für mich, das ist jetzt eine Inszenierung in Kirchensprache und wenn ich dann aus der Kirche rausgehe, bin ich wieder im normalen Leben drin. Sondern die Sprache und die Emotionalität und die Themen und die Probleme, die im Gottesdienst behandelt werden, müssten so sein, dass Menschen sich dort innerlich wiederfinden und nicht das Gefühl haben, sie hätten gerade eine fremde Welt betreten, die sie irgendwie über sich ergehen lassen, weil sie ja gute Christen seien und die gedanklich schon darauf schielen, dass sie endlich den Gottesdienst verlassen und in ihren freien Restsonntag starten können.

Dazu gehört auch, dass die Kulturchristen und die sogenannten verklärten Christen ein bisschen aufeinander zugehen. Die Kulturchristen sind welche, die zwar in der Kirche sitzen, weil man das ja so macht und schon immer gemacht hat, die aber ihren Kindern und anderen Menschen nicht unbedingt etwas davon vermitteln können, weil sie die Kirche weniger aus Überzeugung besuchen, denn aus Tradition.

Und die verklärten Christen sind welche, die alle Welt missionieren wollen und die immer bei den kleinsten Kleinigkeiten irgendwelche außergewöhnlichen Begegnungen gehabt haben wollen mit der Transzendenz. Auch diese Gruppe hat ein gewisses Potenzial zur Abschreckung auf Menschen, die eben nicht in derselben Art und Weise ticken.

Oder kurz gesagt, es wäre schon etwas gewonnen, wenn der christliche Glaube auch philosophische und naturwissenschaftliche Problemfelder stärker integrieren würde und somit deutlich werden würde, dass Philosophie, Naturwissenschaft und christlicher Glaube keine Kontrahenten sind, sondern Weltanschauungen, die sich teilweise ergänzen und auch durchdringen.

Nun ja, so in etwa. Und last, but not least, wäre es vielleicht gut, wenn es unter der Woche auch ein Gottesdienstformat gäbe, möglicherweise am Montagabend, wo man nach der Arbeit kurz vorbeischauen kann, oder Freitag Nachmittag, oder irgendwann unter der Woche. Also so, dass diejenigen Menschen, die prinzipiell in einen Gottesdienst gehen möchten, es am Sonntag aber irgendwie immer nicht schaffen, dies so doch schaffen könnten. Der Service müsste also besser werden.

Was bleibt noch? Man könnte beten, dass Gott und Jesus ihren Segen für die Kirche geben. Und man könnte Menschen noch darauf hinweisen, was Kirche alles sein kann, einige Punkte dazu findet man beispielsweise hier auf evangelisch.de, wenngleich in grauem Kasten und kleiner Schrift nicht sonderlich überzeugend dargestellt, zumal man noch suchen muss, wie man überhaupt zum nächsten Pro-Argument gelangt. Die schlechte Darstellung und die Suche nach dem Weiter-Knopf tun also das ihre, um suchende und prinzipiell hoffnungsvolle Menschen zu verschrecken.

Und ja, das wäre ein letzter Punkt, auch die Darstellung und Inszenierung hat noch Luft nach oben. Das weiß die katholische Kirche mit ihren glitzernden Gewändern und ihrem wohlriechenden Duft nach Weihrauch schon seit vielen Jahrhunderten, während sich die Protestanten gerne auf ihre sachliche Nüchternheit berufen und zurückziehen, eine Nüchternheit, auf der sie mittlerweile zunehmend auch immer mehr alleine sitzen. Nüchtern und alleine.

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