Kairo, eine pulsierende Metropole, in der verschiedene Kulturen und Religionen aufeinandertreffen. Ein Land, in dem jahrtausendealte Traditionen und moderne Lebensstile verschmelzen. Doch diese Fusion von Glaubensrichtungen bringt nicht immer Harmonie mit sich. In dieser Erzählung tauchen wir in eine persönliche Begegnung mit Rumani, einem ägyptischen Kopten, ein und werfen einen tiefen Blick in die Komplexität religiöser Beziehungen, Vorurteile und die Hoffnung auf friedliches Zusammenleben in der vielseitigen Gesellschaft Ägyptens.
Auf dem ersten Stopp einer Rundreise durch Ägypten begegne ich dem Taxifahrer Rumani, einem ägyptischen Kopten. Die christliche Minderheit erfährt in dem muslimisch dominierten Land seit Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten auch von der Regierung Diskriminierung. Über einen Staat und eine ganze Region, in der das Nebeneinander verschiedener Religionen nicht erst in jüngerer Vergangenheit zu Ausgrenzung, Gewalt, Schmerz, Wut, Trauer führte.
Um zu zeigen, dass er Christ ist, krempelt Rumani seinen Hemdsärmel hoch und schiebt seine Armbanduhr zur Seite. Auf der Innenseite seines Handgelenks trägt er ein Tattoo in Form des Christuskreuzes. Rumani ist ägyptischer Kopte, und diese Tätowierung ist das Erkennungszeichen der Kopten. Wenn er das Lenkrad seines Taxis fest umklammert, oder wenn er den Hemdsärmel wieder runterkrempelt, oder wenn er seine Hand zu einer Faust ballt und der lange Fingernagel seines kleinen Fingers das Handgelenk verdeckt, weiß niemand mehr, dass er Christ ist. Ich fühle mich geehrt, wie Teil eines geheimen Bundes, dass Rumani uns sein Handgelenk gezeigt hat. Er lacht.
Dann blickt der Taxifahrer wieder nach vorne, auf die vierspurige Schnellstraße vor dem nördlichen Tor der Altstadt von Kairo – wobei, von Spuren kann kaum die Rede sein, Autos und Tuktuks fahren kreuz und quer, ein Hupkonzert. Am Straßenrand rufen Maisverkäufer Passanten zu sich, heißer Dampf steigt aus ihren Ständen nach oben in den rötlichen Abendhimmel von Kairo, über die niedrigen Häuserdächer, hinter denen die Sonne untergeht.
So viel Müll; Plastiktüten, Windelverpackungen, Konserven, liegen auf dem Gehweg. Es riecht nach Kreuzkümmel, Kardamon, gebratenem Fett. Der Muezin ruft zum Gebet. Kinder klopfen an unser Taxifenster, bieten Zuckerrohrsaft an, fragen nach „Bakshish“, Kleingeld, oder sie wollen einfach nur ihre Nase an die Scheibe drücken und unsere weiße Haut anfassen: „Hello, where are you from?“ Rumani bemerkt sie, schnalzt mit der Zunge und wischt sich über die Schulter, als wollte er eine Fliege vertreiben. Der grob 35-Jährige lächelt die Kinder an, freundlich, aber bestimmt. Ein Blick in den Rückspiegel, an dem ein Teddybär mit Joint im Mund baumelt: „Air Condition?“
Im heutigen Ägypten leben Schätzungen zufolge acht Millionen Christen. Die Mehrheit davon ist wie Rumani koptisch, der Rest verteilt sich auf griechisch-orthodoxe, -katholische oder protestantische Glaubensanhänger. Ursprünglich wurden alle Menschen in Ägypten als Kopten bezeichnet, die die alte ägyptische Sprache der Pharaonen beherrschten. Während der islamischen Expansion, die 630 nach Christus auch Ägypten erreichte, forderten die arabisch stämmigen Eroberer eine Kopfsteuer von den Kopten – oder die Konvention zum Islam. Wer sich dem widersetzte, der wurde bestraft und als Ausgrenzungsmerkmal tätowiert, und zwar mit einem christlichen Kreuz auf der Innenseite des Handgelenks.
All das versucht Rumani auf brüchigem Englisch zu vermitteln. Wichtig ist ihm vor allem: Heute trage die christliche Gemeinschaft das Tattoo freiwillig.
Das Taxi ist am Tahir-Platz angekommen, einem der Hauptplätze von Kairo. Es ist halb acht Uhr abends, auf der Suche nach einem Straßencafé für einen Absacker-Pfefferminztee hat uns Rumani schon durch die halbe Stadt gefahren, erfolglos. Sichtlich im Stress, dass er den Kunden bei der Suche nicht weiterhelfen konnte, schlägt der Familienvater schließlich über Google Translate Englisch-Arabisch Costa Coffee am Tahir-Platz vor. Wir wollten aber „something authentic“ – noch mehr Stress für den zuvorkommenden Rumani. Google Translate kann nicht mehr helfen. Wir lernen: Straßencafés, wie man sie aus westlichen Hauptstädten kennt, sind in Kairo schwer zu finden, und in den Kaffeehäusern, die es gibt, säßen „only muslim men in big groups“.
Wir umrunden in Rumanis Taxi also den Kreisverkehr auf dem Tahir-Platz, dem Platz auf dem 2011 die ägyptische Revolution stattfand. Darüber möchte Rumani kaum sprechen, oder das Thema ist ihm für Google Translate zu kompliziert. Er sagt nur so viel: In der Umbruchszeit, die die Revolution zur Folge hatte, als die ägyptische Bevölkerung den Muslimbruder Mursi zum Präsidenten wählte und als dieser wiederrum im Jahr 2013 vom Militär geputscht wurde, wuchs Rumanis Angst, als Christ Diskriminierung zu erfahren: Im Februar 2011 stürmte das Militär ein Kloster in der Sketischen Wüste, die Soldaten erschossen einen Mönch. Im Oktober kamen 24 Menschen bei einer koptischen Demo in der Hauptstadt ums Leben, laut Augenzeugen habe das Militär sie mit Panzern in der Menge überrollt. 2013 wurde der Sitz des koptischen Papsts in Kairo angegriffen.
Seit der Präsidentschaft des Feldmarschalls El-Asisi hat Rumani weniger Angst, der sei zumindest kein radikaler Religiöser. „Mursi? No good. El-Asisi is ok.“ Trotzdem – Gewalt und Ausgrenzung erfuhren Christen in Ägypten auch nach 2013: Am Palmsonntag 2017 gingen Bilder aus Alexandria und Tanta um die Welt, als bei islamistischen Attentaten in zwei Kirchen 44 Menschen getötet wurden. Bei jeder Kirchensanierung muss die Gemeinde die Regierung fragen um eine Genehmigung, die ihnen oft verwehrt bleibt. Angesichts dieser anhaltenden Diskriminierung ist die Offenheit der Kopten, denen wir begegnen, und ihre Bereitschaft, den Ärmel hochzukrempeln, überraschend: Auf der Reise werden wir noch viele tätowierte Handgelenke sehen; der Ticketverkäufer im Tal der Könige hat die Mutter Maria als Hintergrundbild auf seinem Handy, in Assuan hängt um den Hals unseres Barkeepers eine Jesusfigur, und ein anderer Taxifahrer hat gleich ein ganzes Bündel Holzkreuze an seinen Innenspiegel geknotet. Mutig.
Noch sind wir im Taxi am Tahir-Platz, ganz am Anfang unserer Reise. Rumani fährt uns zurück über die Schnellstraße ohne Spuren, Richtung Altstadt, die sich El-Gamaliya nennt. Wir steigen aus, er bedankt sich überschwänglich und wünscht uns Gottes Segen. Wir ihm auch.
In den Gassen der Altstadt kommen wir vorbei an Handwerksläden, in denen man handverzierte Teller und Skarabäus-Käfer aus Lapislazuli feilscht. Viele Händler haben hier im muslimisch dominierten Gamaliya eine Beule auf der Stirn, vom Vorbeugen auf den Teppich, beim Gebet. Einige muslimische junge Männer lehnen mit Kameras an den Häuserecken. Sie sind Street-Fotographer, erklären zwei von ihnen, sie machen Fotos von arabischen Jungs, die diese für Tinder und Facebook bräuchten. Auf ihren Kameradisplays zeigen die Youngsters stolz quitschbunte Bilder von frisch frisierten Kumpels in steifen Hemden, die auf der Straße posieren. Sehr gefragt seien sie, sagt einer, und die Kunden würden viel für gute Fotos zahlen, es sei ein guter Nebenjob.
Zum Abschluss des Tages gehe ich alleine in die berühmte Al-Hakim Moschee. Mittlerweile ist die Sonne untergegangen, es ist dunkel, hier gibt es wenig Straßenbeleuchtung. Oft fällt in Gamaliya der Strom aus. Immer noch ist der Vorplatz der Moschee voll und belebt, ich habe keine Angst, sehe auch Kinder und Frauen.
Am Eingang der Moschee leihe ich mir ein Kopftuch. Ein Mädchen steht im Hintergrund und bügelt die frischgewaschenen Kopftücher for rent, die sich jeden Tag Duzende Touristinnen aufsetzen.
Jetzt, beim Nachtgebet, ist alles sehr ruhig, wenig bis keine Touristen, nur Gläubige, niemand spricht ein Wort. Die schweren Steinmauern der Moschee lassen das Hupen, Lachen, Motorradknattern des Kairoer Nightlifes nicht herein ins Gotteshaus. Der Mond taucht den spiegelglatten Boden im Innenhof der Moschee in weißes Licht, er erinnert mich an eine Schlittschuhbahn aus der Münchner Innenstadt. Nur den Muezin, den höre ich ganz laut. „Allah ist groß“, spricht er auf arabisch vom Minarett, die Betenden richten sich auf, knien sich wieder hin. Ein etwa zehnjähriger Junge sitzt mit Mutter und Schwester am Rand, sie warten wohl auf den Vater. Der Bub setzt an, an der Wand der Moschee einen Handstand zu üben, die Mutter ermahnt ihn. Nicht hier. Hier ist alles ruhig.
Kairo pulsiert, Kairo streitet sich, nicht immer, aber oft wegen religiöser Überzeugungen. Und wenn dieser Streit eskaliert, kann er sehr blutig werden. Vor allem, wenn Religion und Staat zu einer Einheit werden, wenn man nicht mehr weiß, wo das eine aufhört und das andere anfängt. Wenn religiöse Fanatiker, muslimisch oder welcher Religion auch immer angehörig, an die Macht gelangen, und das Nebeneinander mehrerer Religionen nicht akzeptieren. Und man braucht nur einige hundert Kilometer von Kairo aus in den Osten blicken, über die Sinai Halbinsel nach Israel, wo religiöse Extremisten den jüdischen Staat mit skrupelloser, barbarischer Brutalität attackieren.
Was wäre es nur für eine Bereicherung für das Land Ägypten, wie für alle Staaten auf dieser Erde, wenn Kopten, Muslime und andere Religionen friedlich koexistieren könnten. Erstmal überhaupt zu beobachten und zu verstehen, wie eine andere Kultur lebt, denkt, fühlt, feiert, weint, was Gemeinsamkeiten und auch Unterschiede sind, ist der erste Schritt zu echter Toleranz. Und dieser Schritt wird im Ansatz unterbunden, wenn Regierungen eine Religion den anderen vorziehen.
Das denke ich, wenn ich so nachts allein in der Moschee in der Altstadt von Kairo stehe. „Allah ist groß“, spricht der Muezin wieder. Rumani hat vorhin erzählt, dass er im Dezember in seinem kleinen Apartment in einem Vorort von Kairo mit den Kindern einen Weihnachtsbaum aufstellt. Wo er hier wohl einen Tannenbaum findet?
Oh, du schönes, buntes, fremdes Ägypten, du schöner Orient, denke ich. Was für eine spannende, komplizierte und umkämpfte Region dieser Welt. Mögest du dich nicht selbst zerstören, mögen deine Bewohner ihn endlich finden: Frieden.
Pauline Graf, 21 Jahre, studiert Politikwissenschaft an der LMU