Die tiefe Rationalität der Religion

Wissenschaft gleich Vernunft, Religion gleich Unvernunft. Auf diesen Nenner bringen heute viele das Verhältnis von Wissen und Glauben. Der an Silvester vor drei Jahren verstorbene Joseph Ratzinger (Benedikt XVI.) hat als Hochschullehrer und Kirchenmann gezeigt, dass es so einfach nicht ist.

Heute wird oft ein Gegensatz zwischen der Vernunft in der säkularisierten Gesellschaft beziehungsweise der modernen Wissenschaft und der Irrationalität vormoderner religiöser „Mythen“ und Vorstellungswelten behauptet. Der moderne Mensch könne gar nicht mehr religiös sein und „mit Gott“ argumentieren, ohne das zu gefährden, was ihn überhaupt erst zum modernen Menschen gemacht hat: die Freiheit der Forschung, der Meinung und der persönlichen Lebensgestaltung. Zugleich wird die aufgeklärte Erwartung geäußert, dass Religion unweigerlich an Bedeutung verliere, sobald die Wissenschaft Lebensfragen beantwortet. Die Wissenschaft, die diese Antworten heute offenkundig noch schuldig bleiben muss, stellt, da sie nicht auf die Religion zurückverweisen will, in einem untrüglichen Fortschrittsoptimismus „ungedeckte Schecks“ (Popper) auf die Zukunft aus und versucht einstweilen in der Gegenwart die Erfüllung ihrer Prophezeiung vom „Ende der Religion“ tatkräftig zu beschleunigen.

Während uns die naturalistische Evolutionsbiologie den Schöpfungsglauben auszutreiben versucht und die Wissenschaft dabei ironischerweise selbst Züge dessen annimmt, was ihr an der Religion so verhasst ist (also: aggressiv, intolerant, absolutistisch zu sein), geht die Neurobiologie subtiler vor, indem sie Religion zur Hirnfunktion degradiert. Demnach könnten Menschen, deren Gehirn in einer bestimmten Weise eingerichtet ist, gar nicht anders, als an eine höhere Macht zu glauben, so die Entschuldigung der Hirnforscher für die vom „Gotteswahn“ (Dawkins) Befallenen.

Religion als inhärent aufgezwungenes Trugphänomen unseres Gehirns? Das klingt interessant, wirft aber die Frage auf, wer uns da etwas aufzwingt, womit wir wieder bei der Schöpfung wären beziehungsweise bei der Evolution. Fassen wir nämlich die Postulate und weise Forschungserträge der beiden Richtungen zusammen und folgen wir ihnen, steht im Ergebnis eine „gottlose Evolution“, die „rein zufällig“ einen bei fünf Sechstel der Weltbevölkerung vorhandenen (nach dem Selektionsprinzip also „überlegenen“) Gehirntypus hervorgebracht hat, der diese Menschen dazu zwingt, an Gott zu glauben. Dieses offenkundige Paradoxon hinterlässt Ratlosigkeit, so man nicht einen Geniestreich Gottes, des Schöpfers, im Hirn des Menschen, seines Geschöpfes, vermuten will.

Lässt sich Religiosität wissenschaftlich erklären?

Es zeigt sich hier, dass der Anspruch der Wissenschaft, uns Ursache und Wesen der Religion erklären und damit das Religiöse „mit Vernunft“ einholen zu wollen, nicht gerechtfertigt ist. Zumal auch das wissenschaftliche Forschen ohne Voraussetzungen nicht auskommt, ja, gar nicht erst beginnen kann, wobei sich die Axiome und Prämissen ihrer Hypothesen häufig selbst nicht wissenschaftlich beweisen lassen. Das System bringt nicht zugleich seine Rechtfertigung mit. Diese liegt ihm außerhalb, ein Umstand, den für die Gesellschaft und ihre politische Konstitution Ernst-Wolfgang Böckenförde in dem oft zitierten Satz zum Ausdruck gebracht hat: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“. Und dass diese Voraussetzungen in religiösen Glaubensvorstellungen liegen, manifestiert in entsprechenden religiösen Begrifflichkeiten und Symbolen, das zeigte schon Emil Durkheim, indem er den instrumentell-funktionalistischen Wert der Religion für das soziale System betonte. Und so fußt letztlich auch das Denken des Wissenschaftlers auf einem Glauben, der seinem wissenschaftlichen System äußerlich bleibt.

Wer also Wissenschaft und Religion gegeneinander ausspielt, indem er diese ganz in jene einbettet und außerhalb jener vernünftigerweise nichts gelten lassen will, übersieht die „zu glaubenden Voraussetzungen der Wissenschaft“ (Stegmüller) ebenso wie die Gefahr einer „pseudoreligiösen Wissenschaftsgläubigkeit“ (Wolfgang Huber), die bei der methodologischen Reduktion menschlicher Daseinsvollzüge auf die Kategorie „reine Vernunft“ droht; auch übersieht er die diesbezügliche Kritik an der Hochaufklärung, die bereits bei Immanuel Kant in epistemologischer und ethischer Hinsicht einsetzt und in der „Dialektik der Aufklärung“ (Max Horkheimer/Theodor W. Adorno) eine soziologische Wendung erfährt. Von der Unlösbarkeit des bei Böckenförde anklingenden Dilemmas ganz zu schweigen.

In Bezug auf die christliche Religion wäre anzumerken, dass es gerade jenes christliche Menschenbild der Geschöpflichkeit und Gottebenbildlichkeit ist, auf das die katholische und die evangelische Kirche schauen, wenn sie Wissenschaft und Gesellschaft zum Schutz der Menschenwürde verpflichtet sehen und diesen vehement einfordern, dass gerade die Vorstellung, der Mensch sei Abbild Gottes, die anthropologische Bedingung für die Ermöglichung universaler Freiheit darstellt und dass die lex nova der unbedingten Liebe zum Nächsten in seiner ganzheitlichen Personalität die kritischen Gedanken zu neuen Lebensformen und Erkenntnisweisen konstituieren, nicht etwa misanthrope Fortschritts- respektive Lustfeindlichkeit. Erhellend ist, was Jürgen Habermas dazu sagt: „Das Christentum ist für das normative Selbstverständnis der Moderne nicht nur Katalysator gewesen. Der egalitäre Universalismus, aus dem die Ideen von Freiheit und solidarischem Zusammenleben entsprungen sind, ist unmittelbar ein Erbe der jüdischen Gerechtigkeit und der christlichen Liebesethik. In der Substanz unverändert, ist dieses Erbe immer wieder kritisch angeeignet und neu interpretiert worden. Dazu gibt es bis heute keine Alternative“.

Ist Religion unvernünftig?

Zu zeigen, dass die Behauptung prinzipieller Inkonsumerabilität von christlicher Religion und Vernunft nicht haltbar ist, das ist so etwas wie das Lebensthema Papst Benedikts XVI. (Joseph Ratzinger), was nicht verwundert, denn schließlich hat er selbst ein langes Forscherleben hinter sich: Nach der Promotion (1953) habilitiert er sich 1957 und wirkt dann gut 20 Jahre als Professor für Dogmatik. Er nutzt jede Gelegenheit, um mit der Wissenschaft in einen Dialog einzutreten und darin immer wieder zu begründen, warum die Vernunft auch ein Begriff des christlichen Glaubens ist, warum daher für das Christentum gilt: „Der Glaube zerstört die Vernunft nicht, er bewahrt sie und bleibt sich dadurch selbst treu“.

Als ein beachtlicher Meilenstein dieses Dialogs kann ein Gespräch betrachtet werden, das Anfang 2004 in der Katholischen Akademie München Ratzinger und Habermas als Vertreter zweier vermeintlich konträrer Weltanschauungen geführt haben. Während der Theologe Ratzinger wie kein zweiter den christlichen Glauben im weiteren und die Römisch-Katholische Kirche im engeren Sinne vertritt, so steht der Philosoph und Soziologe Habermas für die nachmetaphysische Vernunft in der Tradition der europäischen Aufklärung. Das Gespräch offenbarte jedoch eine erstaunliche Nähe der Positionen, tatsächlich fanden sich zwischen dem „Glaubenshüter“ Ratzinger und dem „religiös unmusikalischen“ Habermas Übereinstimmungen.

Das Wichtigste scheint dabei, dass auch Habermas der Religion Sinngehalte zuspricht, für die eine „ethisch enthaltsame“ Wissenschaft keine Sprache hat, ein Gespür für Verfehlung und Erlösung, Scheitern und Gelingen. Dort wo sonst alles nur noch in Geldwerten bemessen wird, kann die Religion Werte setzen, die dem Auftrag des Menschen zur Bewahrung der Schöpfung über den Tag hinaus gerecht werden. Wie weit diese korrektive Funktion der Religion reicht, ist dabei umstritten. Während der Theologe Ratzinger den Vorrang der Religion betont, ist die „Kontrollinstanz Kirche“ für einen liberalen Denker wie Habermas unannehmbar. Das Schreckgespenst eines totalitären Absolutismus, das hier auftaucht, ist in einer Demokratie, in der alles nur relativ sein kann, undenkbar. Nur wird dabei vergessen, dass Religion auch etwas Relatives ist, nämlich die Einordnung des Menschen in einen Ordo, der in der Beziehung zu Gott und nur dort erfahrbar wird. Doch müssen die Kriterien der Einordnung vernünftig vermittelbar sein, ein theologischer Dogmatismus kann nur scheitern. Umgekehrt ist auch ein wissenschaftlicher „Dogmatismus“ fehl am Platz. Habermas betont, dass das säkulare Bewusstsein der Wissenschaft lernen müsse, der Religion nicht von vornherein den Wahrheitsgehalt abzusprechen, denn – so der Philosoph mit Blick auf die boomenden Neurowissenschaften – „naturalistische Weltbilder genießen keineswegs prima facie Vorrang vor religiösen Auffassungen“.

Ratzinger hatte schon früher betont, dass die Wahrheit jenseits der Natur liegt und dass es dem Christentum um Abgrenzung sowohl zur einengenden Rationalität bloßer Wissenschaftlichkeit als auch zur Unvernünftigkeit des Heidentums geht, das heißt um ein erweitertes Verständnis von Vernunft, wie sie sich in der sittlich-geschichtlichen Entfaltung des Christentums manifestiert: „Die beiden immer auseinanderfallenden Seiten der Religion, die ewig waltende Natur und die Heilsbedürftigkeit des leidenden und ringenden Menschen sind ineinander verbunden. Die Aufklärung kann Religion werden, weil der Gott der Aufklärung selbst in die Religion eingetreten ist. Das eigentlich Glauben heischende Element, das geschichtliche Reden Gottes, ist doch die Voraussetzung dafür, daß die Religion sich nun dem philosophischen Gott zuwenden kann, der kein bloß philosophischer Gott mehr ist und doch die Erkenntnis der Philosophie nicht abstößt, sondern aufnimmt. Hier zeigt sich etwas Erstaunliches: Die beiden scheinbar konträren Grundprinzipien des Christentums: Bindung an die Metaphysik und Bindung an die Geschichte bedingen sich gegenseitig und gehören zusammen; sie bilden zusammen die Apologie des Christentums als religio vera. Wenn man demgemäß sagen darf, daß der Sieg des Christentums über die heidnischen Religionen nicht zuletzt durch den Anspruch seiner Vernünftigkeit ermöglicht wurde, so ist dem hinzuzufügen, daß ein zweites Motiv gleichbedeutend damit verbunden ist. Es besteht zunächst, ganz allgemein gesagt, im moralischen Ernst des Christentums“.

Religion und Wissenschaft sind gleichermaßen rational

Wir können also festhalten: Religion und Wissenschaft spielen als Ausdruck der Vernunft beide eine berechtigte Rolle beim Versuch des Menschen, zu einer Selbstvergewisserung und einer Orientierung in der Welt zu gelangen. Die ganze Wahrheit gibt sich der Vernunft nur zu erkennen, wenn sich das Beweiswissen der Wissenschaft mit dem Offenbarungswissen der Religion paart, wenn dem forschen Aufstieg der Forschung neben dem Fortschrittswillen immer die Fähigkeit und Absicht zur demütigen Selbstbegrenzung erhalten bleibt, wenn der Ehrfurcht vor der neuen Erkenntnis die Ehrfurcht vor dem alten Gott innewohnt, ohne dass dogmatische Denkverbote bestünden, wenn statt dessen Denken und Glauben – gleichberechtigt sich ergänzend – zur Generierung von Wissen, Weisheit und Wahrheit dienen, kurz: Die ganze Wahrheit ist dort, wo Religion und Wissenschaft als Modi menschlicher Kultur einander ernst nehmen und gemeinsam dem Menschen dienen wollen. Den Wahrheitsbegriff der Wissenschaft auf die Religion zu stülpen ist so falsch wie den Erlösungs- und Heilsanspruch der Religion auf die Wissenschaft anwenden zu wollen. Religion liefert kein Beweiswissen und Wissenschaft sorgt nicht für Erlösung.

Josef Bordat


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