Der 90-Milliarden-Kompromiss

Merz, die Angst und das russische Geld

​In Brüssel ist eine Entscheidung gefallen, die als Erfolg verkauft wird, aber bei genauerem Hinsehen viele Fragen offenlässt. Bundeskanzler Friedrich Merz und die EU-Spitzen haben sich darauf geeinigt, der Ukraine für die Jahre 2026 und 2027 Kredite in Höhe von 90 Milliarden Euro zu gewähren. Der ursprüngliche Plan, direkt auf die eingefrorenen russischen Vermögenswerte (immerhin rund 210 Milliarden Euro) zuzugreifen, ist jedoch vom Tisch. Stattdessen dient dieses Geld nur als Sicherheit. Doch wer trägt am Ende wirklich das Risiko?

​Ein Kredit mit doppeltem Boden – oder doch nicht?

​Die Konstruktion ist vertrackt, aber im Kern simpel: Die EU nimmt Schulden auf und leitet sie als Kredit an Kyjiw weiter. Merz betont, dass dies die nationalen Haushalte nicht belaste. Das klingt gut, ist aber nur die halbe Wahrheit. Denn die EU geht, wie der Kanzler selbst zugibt, „ins Obligo“. Das bedeutet: Die EU bürgt.

​Nüchtern betrachtet geht die Gemeinschaft hier massiv in Vorleistung. Zwar heißt es offiziell, der Kredit sei durch das russische Vermögen „besichert“. Aber solange man sich rechtlich nicht traut, dieses Vermögen auch wirklich zu enteignen und zu Geld zu machen, ist diese Sicherheit totes Kapital. Sollte die Ukraine den Kredit nicht bedienen können (was angesichts des Krieges wahrscheinlich ist) und Russland keine Reparationen zahlen, hängt die EU am Haken. Der EU-Haushalt haftet, und damit am Ende doch wieder der Steuerzahler.

​Warum Belgien auf die Bremse trat

​Warum nimmt man das russische Geld nicht einfach jetzt? Hier zeigt sich die Angst vor der eigenen Courage. Vor allem Belgien hat blockiert. Der Grund: Ein Großteil der Gelder liegt bei der Finanzinstitution Euroclear in Brüssel. Die belgische Regierung fürchtet, dass Russland Vergeltung übt, etwa durch Enteignungen europäischer Firmen in Russland oder Klagen gegen Euroclear.

​Die Sorge ist: Wenn wir jetzt zugreifen, könnte das unser eigenes Finanzsystem ins Wanken bringen. Deshalb bleibt das russische Geld „immobilisiert“ – also eingefroren, aber unangetastet. Frankreich und Italien wollten zudem nicht für die Risiken garantieren, die Belgien befürchtet. Das Ergebnis ist ein Formelkompromiss: Wir nutzen das Geld nicht, wir tun nur so, als ob es unsere Versicherung wäre.

​Das logische Problem mit der Zukunft

​Hier offenbart sich der wunde Punkt der Strategie: Wenn die EU sich heute aus Angst vor rechtlichen und wirtschaftlichen Folgen nicht traut, das russische Vermögen anzufassen – warum sollte sie es sich in zwei Jahren trauen?

​Die Hürden werden nicht kleiner. Im Gegenteil: Sollte es irgendwann zu Verhandlungen mit Russland kommen, wird Moskau die Freigabe dieser Vermögenswerte zur Bedingung machen. Dann steht die EU vor dem Dilemma: Geben wir das Pfand zurück und bleiben auf den 90 Milliarden Euro sitzen? Oder riskieren wir dann den großen Knall? Man hat das Problem also nur in die Zukunft verschoben, in der Hoffnung, dass sich bis dahin eine Wunderlösung findet. Es ist eine Wette auf Zeit, bei der der Einsatz hoch ist.

​Teuer, wackelig – und doch alternativlos

​Friedrich Merz wollte einen härteren Kurs und den direkten Zugriff auf die russischen Milliarden. Dass er nun diesen Umweg über Kredite gehen muss, ist ein Zugeständnis an die zögerlichen Partner. Faktisch finanziert die EU den Krieg vorerst aus eigener Tasche (über Schulden), während Putins Milliarden weiterhin sicher auf europäischen Konten liegen. Finanziell ist das ein Drahtseilakt.

​Doch bei aller Kritik an der Buchführung darf eines nicht übersehen werden: Es gibt keine echte Alternative.

​Das Geld muss fließen, und zwar jetzt. Denn würde die Unterstützung ausbleiben und die Ukraine fallen, stünden russische Truppen nicht mehr nur vor Charkiw, sondern direkt an der Außengrenze der EU. Die Gefahr, dass der Krieg dann auf das Gebiet der Union überschwappt, ist real. Die Kosten für eine solche Verteidigung Europas würden die jetzigen 90 Milliarden wie Kleingeld wirken lassen.

Ganz abgesehen von der moralischen Dimension: Russland hat bereits eine humanitäre Katastrophe angerichtet. Ein Sieg Putins würde dieses Leid in unvorstellbare Dimensionen steigern – durch Besatzungsterror, Vertreibung und Vernichtung. Dieser Kompromiss ist also finanziell unschön und riskant, aber er ist der Preis, den Europa zahlen muss, um seine eigene Sicherheit und die Reste der Menschlichkeit auf diesem Kontinent zu verteidigen.

Quellen: Informationen basierend auf Berichten von DIE ZEIT (Stand: 19. Dezember 2025).


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Kommentare

4 Antworten zu „Der 90-Milliarden-Kompromiss“

  1. Avatar von Agricola
    Agricola

    Recht zu haben und Recht zu erhalten sind zwei verschiedene Sachen. Die (unbezweifelte) Agression Rußlands ist die eine Sache, die Realität auf dem Schlachtfeld eine andere.
    Europa – und allen voran Deutschland – zahlen nun für ihre moralische Überheblichkeit, die einen Friedensschluß zu günstigeren Zeiten verhinderte. Man sonnte sich im Gefühl der eigenen moralischen Überlegenheit, wollte deshalb den Agressor bestrafen und träumte von einem Sieg über Rußland.
    Letzteres haben ein kleiner Franzose und ein österreichischer Postkartenmaler auch schon gemacht.

    1. Hallo Agricola,
      ​danke für Ihren Beitrag zur Diskussion. Ich möchte Ihnen jedoch entschieden widersprechen und die Situation richtigstellen.

      ​Es war keine „moralische Überheblichkeit“, die einen Frieden verhindert hat. Die Forderungen Russlands liefen faktisch auf eine Kapitulation hinaus. Ihr historischer Vergleich hinkt zudem gewaltig: Die heutige Unterstützung für Kyjiw dient der legitimen Selbstverteidigung eines souveränen Staates gegen einen Überfall. Das hat nichts mit den Eroberungskriegen früherer Diktatoren zu tun.

      ​Bitte beachten Sie auch unsere eigenen Sicherheitsinteressen: Würde der Westen die Unterstützung einstellen, stünde die russische Armee womöglich bald direkt an den Außengrenzen der EU.

      ​Ein Sieg Putins hätte zudem fatale Folgen für uns alle: Es kämen massive Flüchtlingsströme auf Europa zu, die unsere Kapazitäten sprengen würden. Die humanitäre Katastrophe würde sich durch Besatzungsterror und Vertreibung noch drastisch verschlimmern.

      ​Es geht hier nicht darum, sich moralisch zu sonnen, sondern um handfeste Notwendigkeit zum Schutz auch unserer eigenen Sicherheit und Freiheit.

  2. Avatar von Agricola
    Agricola

    Wo liegt die Grenze zwischen einer Kapitulation und einem ungünstigen Friedensvertrag? Zwischen der deutschen Kapitulation 1945 und dem aus französischer Sicht ungünstigen Frieden nach 1870/71 liegen Welten. Irgendwo dazwischen wird sich der anzustrebende Frieden zwischen Rußland und der Ukraine einfinden.
    Wir dürfen nicht übersehen, daß dieser Krieg jeden Tag das Leben vieler (zumeist junger) Menschen fordert. Welchen Gegenwert gibt es dafür? Ist dieser Gegenwert diese Menschenopfer wert?
    Das Durchhalten bis zuletzt ist keine christliche Kategorie. Ich empfehle in diesem Zusammenhang Lukas 14:25-35 als Lektüre.

    1. Hallo Agricola,

      Sie ziehen eine Linie zwischen 1871 und 1945. Dieser Vergleich verkennt die Realität in Kyjiw und die erklärte Absicht des Aggressors. Putin hat mehrfach deutlich gemacht, dass er der Ukraine das Existenzrecht als souveräner Staat und eigene Kultur abspricht. Wir haben es hier nicht mit einem territorialen Konflikt des 19. Jahrhunderts zu tun, der durch Gebietsabtretung befriedet werden könnte, sondern mit einem Vernichtungskrieg. Ein „ungünstiger Frieden“ unter den aktuellen Bedingungen wäre faktisch eine Etappen-Kapitulation, die Russland nur Zeit zur Aufrüstung für den nächsten Schlag gäbe.

      ​Zu Ihrer Frage nach den Menschenopfern: Das ist ein oft gehörtes Argument, das jedoch Täter und Opfer vertauscht. Nicht die Verteidigung kostet Leben, sondern der Angriff. Würde die Ukraine die Waffen niederlegen, endete das Sterben nicht. Wie wir in Butscha und anderen Orten gesehen haben, beginnt dann erst die systematische Verfolgung, Folter und Verschleppung der Zivilbevölkerung. Der „Gegenwert“ der Verteidigung ist also das nackte Überleben und die Verhinderung eines noch größeren Massenmordes. Es ist zynisch, den Opfern zu raten, sich nicht zu wehren, um das Sterben zu verkürzen.

      ​Schließlich zu Ihrem Bibelverweis auf Lukas 14: Das Gleichnis vom Turmbau und dem kriegführenden König mahnt dazu, die Kosten der Nachfolge Jesu zu überschlagen. Es als geopolitische Anweisung zur Unterwerfung unter einen Tyrannen zu deuten, ist theologisch mehr als gewagt. Christliche Verantwortung bedeutet auch, dem Nächsten in der Not beizustehen (Barmherziger Samariter) und dem Bösen nicht freien Lauf zu lassen. Frieden, der auf dem Friedhof der Freiheit gebaut ist, ist kein christlicher Frieden.

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