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Über das Staunen

Das Staunen fällt uns schwer in unserer schnelllebigen und geschäftigen Zeit. Staunen bedeutet innehalten, sich unterbrechen lassen, eine Wahrnehmung in sich wachsen lassen und so angerührt und bewegt werden.

Nicht das Spektakuläre, sondern das Alltägliche wird dann zum Staunenswerten. Das Spektakuläre schreit laut und macht sich breit, verdrängt mit Macht alles andere. Es taucht plötzlich auf und verschwindet ebenso schnell wieder. Das Alltägliche aber ist einfach da, still und unaufdringlich. Nicht es hat sich verändert, sondern unser Sinn für es: Wir nehmen das Ungewöhnliche im Alltäglichen wahr.

Dann beginnen wir zu staunen. Alles kann Anlass zum Staunen werden, wenn wir dazu bereit sind. Die in Grüntönen schimmernde Wiese. Die durch ein Geäst scheinende Sonne. Der Schattenwurf eines Busches. Ein Käfer. Ein Schmetterling. Das Gurren einer Taube. Ein Musikstück. Ein Wort. Ein Stein. Ein Regentropfen. Der Mensch neben mir: Seine Hand. Seine Augen. Seine Falten. Seine Stimme.

Aber auch die Geschichte kann Anlass zum Staunen werden. Die alles umfassende Weltgeschichte und unsere kleine, eng begrenzte Lebensgeschichte. Dass ich entstanden bin. Dass ich bin, was ich geworden bin, einen Weg gegangen bin bis zu dem Ort, an dem ich heute stehe. Dass Menschen da waren, die mich begleiteten und mir halfen. Dass ich bewahrt wurde und mein Herz noch schlägt, so unzählige Male.

Wenn wir staunen, ist der Regentropfen weit mehr als einige miteinander verbundene Wassermoleküle. Was uns staunen lässt, entzieht sich der Berechnung. Es wirkt direkt auf uns, ohne dass ein Tun von uns dazwischentreten müsste.

Der zum Tun verurteilte oder sich selbst verurteilende Mensch muss immer dazwischentreten. Er kann sich nicht unmittelbar dem anderen überlassen. Sein unaufhörliches Tun lässt keine unmittelbare Begegnung zu, sondern macht alles zum Gegen-Stand. Alles, was ist, muss einem Zweck dienen und wird so selbst zum Zweck. Es darf nicht sein, was es ist.

Martin Buber hat unsere Erfahrung von einer Beziehung unterschieden: „Man sagt, der Mensch erfahre seine Welt. Was heißt das? Der Mensch befährt die Fläche der Dinge und erfährt sie. Er holt sich aus ihnen ein Wissen und ihre Beschaffenheit, eine Erfahrung. Er erfährt, was an den Dingen ist.”* Davon unterscheidet Buber die Beziehung, die das Weltliche nicht erfährt, sondern es unmittelbar wahrnimmt, seine Wahrheit aufnimmt und so ihm begegnet.

Ohne eine solche Beziehung zur Welt, die das Gegenständliche übersteigt, können wir das Göttliche in ihr nicht finden. Was wir in der Erfahrung finden, wird nichts sein als gegenständliche Welt. Das Göttliche der Welt, Gott im Weltlichen bleibt verborgen.

Dabei soll alles in der Welt seinen Schöpfer loben: Sonne, Mond und Sterne, Himmel und Erde, das Unsichtbare und Sichtbare, Berge und Hügel, Vögel und Gewürm, Mächtige und Machtlose, Junge und Alte, aber auch Feuer und Hagel, Sturm und Fluten, also auch das Bedrohliche – alles ist ausgerichtet, Gott zu loben (Ps 148). Und wir können dieses Lob vernehmen, wenn wir Augen haben zu sehen.

Gott wird uns nicht als GOTT begegnen, in einer imponierenden Göttlichkeit und Herrlichkeit. Er begegnet als Gott im Weltlichen, Schwachen, Sterblichen. So wird das Weltliche zum Gleichnis für ihn, es verweist auf ihn. Im Staunen über dieses Weltliche kann es geschehen, dass er uns aufgeht. Dass wir uns unterbrechen lassen. Dass wir offen sind. Dass wir innehalten, kein Geschehen anstoßen, sondern warten, bis es geschieht. Hier gibt es kein Muss, hier ist alles unverfügbar. Es kann geschehen, dass wir die Welt schauen, uns anrühren lassen und bewegt werden von ihrem Geheimnis.

Dann wird uns das Weltliche durchsichtig für das Göttliche. Für die Macht der Liebe, die es lobt und über die man nur staunen kann.

(* Martin Buber: Ich und Du. In: Das dialogische Prinzip. Lambert Schneider im Bleicher Verlag Gerlingen. 8. Aufl. 1997. Seite 9.)

Von Klaus Straßburg

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26 Kommentare

  1. Nirmalo

    Für die Katholiken ist
    heut Freudensonntag:

    Laetare! (Freue dich!)

    🌷

    Gerd: „Die Vertikale kann man nicht von der Horizontalen trennen“

    Vertikale und Horizontale sind bloß Hilfs-Ideen… für die Horizontale.

    Dafür haben wir in dieser Frequenz den Verstand mitbekommen,
    daß wir (wie auch der Da Vinci) ihn für praktische Dinge nutzen
    können. Für Wesentliches ist er zu klein und auch nicht zuständig.

    Erdachsen sind auch
    Erdachtes

    🌷

    Zitat: „Ich bin ein Teil vom Teil der anfangs EINS war.“

    Die EINheit ist von all dem unberührt.

    Die Nutzung des Verstandes und seine
    Konstrukte tangieren die Einheit nicht.

    Die Realität(en) stört
    die Wirklichkeit nicht.

  2. Nirmalo

    Der Verstand ist in der Realität nütze, nicht
    in der Wirklichkeit. Auf der Horizontalen ist
    er nütze, nicht in der Vertikalen.

    Beim Einkauf ist er nütze, nicht in der Stille.

  3. Gerd Zimmermann

    Nirmalo

    @ Vertikale und Horizontale sind bloß Hilfs-Ideen… für die Horizontale.

    Ja, aber wie soll man die Materie einen Materialisten ohne
    Materie erklären. Er braucht den Raum als Bezugssystem.
    Ein offenes System kann er nicht akzeptieren.
    Die Hauptsätze der Thermodynamik betrachten ein
    geschlossenes System und können im Universum keine
    Gültigkeit besitzen.

    @ Die EINheit ist von all dem unberührt.

    Ja, denn die Einheit ist ja auch nicht die Dinge.
    Sonderfall: Annäherung an die Einheit durch Frequenzen.

    Das kann bis zur Aufhebung physikalischer Naturgesetze
    führen.
    Wenn der Funke überspringt.

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