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Advent in der Wüste

Die Zeit des Advents macht uns klar, dass noch etwas aussteht. Wir sind noch nicht am Ziel – trotz aller Errungenschaften des Fortschritts, an denen vor allem diejenigen Anteil haben, die es sich leisten können. Aber das Ziel entzieht sich diesen Errungenschaften. Es besteht weder im greifbaren Glück noch im verlängerten Leben. Das Ziel ist ein in einem Stall geborenes Kind.

Dem Gedenken seiner Geburt gehen wir entgegen. Es ist wie jedes Gedenken ein rückschauendes: die Freude über den gekommenen Erlöser. Und es ist zugleich eine vorausschauende Erwartung: die Vorfreude auf den Tag, an dem der Erlöser wiederkommen wird. Denn das Kommende ist der Gekommene.

„Wovon muss ich eigentlich erlöst werden?” fragte jemand. Das ist die Frage des Satten und Selbstzufriedenen. Er weiß nichts von Entbehrungen und fühlt sich sicher. Freiheit hat er sich auf seine Fahnen geschrieben. In dem, was er für Freiheit hält, erträgt er die verbliebenen Unfreiheiten. Der Leib gesättigt und die Seele mit sich selbst zufrieden geht er seinen Weg. Auch den Tod, von dem er weiß, dass er ihm nicht entkommt, erträgt er mannhaft. Vielleicht gesteht er ihm sogar zu, so etwas wie ein Übergang zu einem anderen Sein zu sein. Aber das, sagt er, weiß man nicht und blinzelt.

Paulus weiß anders von der Gegenwart zu reden: Er weiß um das Seufzen und die Schmerzen alles Geschaffenen und daher um seine Sehnsucht, seine Hoffnung auf Befreiung. Befreiung wovon? Von der Nichtigkeit der Schöpfung und ihrem Versklavtsein durch die Vergänglichkeit (Röm 8,19-22). Da sind die sinnlosen Mühen des Seins und der unumgängliche Tod nicht das, was man heroisch erträgt, sondern das, wogegen die Seele sich sträubt und womit sie sich nicht abfinden kann. Der Christ erlaubt sich das Seufzen und Sehnen. Das ist seine Freiheit.

Es ist die Freiheit des Hoffenden. Der Heroische braucht nicht zu hoffen. Er ruht scheinbar in sich selbst. Dem Entbehrenden, Seufzenden und Schreienden aber entzieht sich aller Heldenmut, und in seiner Not an der Gegenwart bleibt ihm nur das Hoffnungslicht der ersehnten Zukunft.

Als die Israeliten in Ägypten als Sklaven gehalten wurden, seufzten und schrien sie ob ihrer Not. Dass sie zu Gott schrien, wird nicht gesagt. Wohl aber wird erzählt, dass ihr Wehgeschrei zu Gott drang und dass Gott es hörte (2Mo/Ex 2,23f). So lernte er die Leiden der Sklaven kennen (3,7): Kein theoretisches Wissen um das Leid war das, sondern eine Erfahrung ihres Leids. So nahm Gott teil am Leid der Versklavten. Wer das Schreien wirklich hört, dem dringt es in Mark und Bein, und es wird zu seinem eigenen Schrei. Das ist der Gott, der selber schrie, als er am Kreuz verschied.

Aber das Schreien Gottes ist nicht kraftlos wie unser Schreien, sondern eins, welches das Leid durchlebt und gerade so überwindet. In dieser Kraft des Leidens mit den Sklaven führte Gott sie heraus aus Ägypten und beendete damit ihre Sklaverei. Diese Herausführung aus Ägypten war das Datum, an dem sich das Bewusstsein bildete, dass Israel ein Volk sei: zusammengeschweißt durch die Erfahrung, einen gemeinsamen Retter-Gott zu haben, der in das Leid der Geplagten hinabgestiegen ist (3,8).

Doch mit diesem Bewusstsein vom Retter-Gott war das Leid nicht beendet. Es folgte die Wanderung durch die Wüste, dem verheißenen Land entgegen. 40 Jahre, so heißt es, soll diese Wanderung gedauert haben. 40 Jahre – das ist keine bloß historische Zahl, sondern eine aussagekräftige. Die Zeit der Entbehrungen und der Nöte scheint kein Ende zu nehmen. Statt des verheißenen Landes, in dem „Milch und Honig fließen”, gibt es nur Ödland und Sorge um die tägliche Nahrung. Die Gegenwart zeigt nichts von der verheißenen Zukunft.

Da machen sich Enttäuschung, Unmut und Zweifel breit. Das Volk beginnt aufzubegehren wider diesen Gott, der ein Lügner zu sein scheint, der das Versprochene nicht hält. Immer wieder gibt es diese Abwendung Israels von seinem Retter, und immer aufs Neue wendet dieser sich seinem Volk zu. Doch schließlich muss ein neuer Gott her, einer, der nach Israels Geschmack ist: ein sichtbarer, einer, der gemacht ist aus dem Stoff, der von Israel selbst kommt. Das beste, was sie hatten, gaben sie, damit aus Gold Gott würde (2Mo/Ex 32,2-4). Kein fremder Gott, nicht fassbar, sondern ein bekannter, aus dem Eigenen gemachter und darum verstehbarer. Und kein schwächlicher Gott, welcher der Entbehrungen nicht Herr wird, sondern ein starker, mächtiger, darum ein Stier (kein goldenes Kalb; Kalb war nur ein verächtlicher Ausdruck des Verfassers von 2Mo/Ex für das, was Israel nun als seinen Gott anbetete). Der Stier stand auch für sexuelle Potenz. Darum artet das Fest um diesen Gott in eine sexuelle Orgie aus (32,6). Der Mensch feiert sich selbst.

Erst der Anführer Mose bringt die Verirrten zur Raison. So ziehen sie weiter durch die Wüste, und der geschmähte, verachtete Gott sendet einen Engel vor ihnen her (32,34). Andernorts ist von einer Wolken- und Feuersäule die Rede (13,21f; 4Mo/Num 14,14), ein Licht in den dunklen Wüstennächten. Sie durchwandern die Wüste mit dem Wort der Verheißung hinter sich und der Feuersäule vor sich. Aber das reicht nicht aus, um Gewissheit zu erlangen. Es kann auch alles ein glücklicher Zufall sein.

Auch wir wandern durch Wüsten. Hinter uns das Wort der Verheißung, vor uns nichts als ein paar selbst entzündete Kerzen. Nichts Überzeugendes. Und die Wüste dehnt sich unendlich.

Da fragen die Skeptiker: „Warum gibt es so viel Leid auf Erden? Womit hab’ ich verdient, so viel leiden zu müssen? Warum hat Gott uns Unbescholtene in eine Welt des Leids gesetzt?” Es sind die Fragen derer, die gefangen sind darin, nicht genug bekommen zu können: genug Glück, genug Wunscherfüllung, genug Lebensfreude.

Die Fragen der Glaubenden aber sind: „Warum gibt es so viel Schönes auf Erden? Womit hab’ ich verdient, dass es mir so gut geht? Warum hat Gott uns Schuldbeladenen eine Welt der ewigen Freude verheißen?” Es sind die Fragen derer, denen die Augen geöffnet wurden für das Unverdiente: die Gnade, die Lebensfülle, die Ewigkeit.

Die wahrhaft Leidenden und Hoffenden haben das Fragen oft schon hinter sich gelassen. Sie warten nur noch auf die Herausführung aus der Sklaverei ihres Leidens. Wer hofft und wartet, fragt nicht mehr. Er sehnt den Exodus herbei, den Auszug aus allem, was der kommenden Herrlichkeit nicht entspricht.

Das Kind im Stall war nur der Anfang. Aber es war der Anfang, der das Ende schon vorweggenommen hat. In diesem einen Menschen ist das Ende sichtbar geworden: die vollkommene Gemeinschaft mit Gott. Der Friede des Menschseins. Dass dieser Mensch am Kreuz endete, zeugt nur von seiner Gottesgemeinschaft: von der Liebe dieses Gottes, der die Schuld und das Leid der Menschen kennt, weil er es erlebt, und der dennoch an ihnen festhält. Sie dürfen leben, während der mit Gott Geeinte stirbt.

Doch auch der Tod hält ihn nicht auf. Er geht weiter mit und durch die Wüsten des Lebens und des Todes. Und am Ende wird er die Seinen an der Seite seines Volkes Israel in das verheißene Land geleiten. Das Land, in dem kein Leid und Geschrei, kein Schmerz und Tod mehr sein werden (Offb 21,4).

Darum zünden wir im Advent Kerzen an. Kleine Lichter, selbst entzündet. Aber sie stehen für das große, das einzige Licht: den Gekommenen und Wiederkommenden. Sie stehen für das, wonach alles Geschaffene sich sehnt: das, was wir als Sehnen im Herzen tragen und das uns doch so unglaubwürdig erscheint. Es sei denn, Gott öffnet uns die Augen für das noch Ausstehende und noch nicht Sichtbare. Dann hat der Auszug aus der Sklaverei schon begonnen und die Wüste ihre größten Schrecken verloren.

Von Klaus Straßburg

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