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Leben im Zwischenraum

Ich liebe die Stunde der Dämmerung, wenn es nicht mehr ganz hell ist, aber auch noch nicht dunkel. Das grelle Licht des Tages hat sich gelegt, und die Welt erscheint in Pastellfarben.

Langsam kehrt Ruhe ein, die Betriebsamkeit und Hektik des Tages ebbt ab. Es wird leiser in der Stadt. Die Menschen gehen langsamer, und es zeigen sich mehr Liebespaare. Die Fenster sind heimelig erleuchtet. Der Feierabend beginnt.

Ein schönes deutsches Wort: Feierabend. Was feiern wir am Abend? Das Leben.

Das Leben beginnt damit, einfach nur da zu sein. Nichts mehr tun zu müssen. Kein Muss, kein Druck, keine Eile. Die Pflichten loslassen. Nur da sein. Allein oder zu zweit. Oder im Freundeskreis.

Ich sehe durch die Fenster. Nicht hell, sondern in freundlichem Oker sind sie erleuchtet, beinahe goldfarben. Man sieht nur einen Schrank, eine Lampe, ein Bild an der Wand. Alle Menschen versuchen, sich ihr Heim schön zu machen. So, dass sie sich wohlfühlen. Was mag sich dort abspielen hinter den dicken Mauern? Nicht nur Gutes, ich weiß.

Die nahende Nacht bringt auch Gefahr, Angst, Schlaflosigkeit, sorgenvolle Gefühle. Wir sind auf uns selbst zurückgeworfen. Die Ablenkung lässt nach, die Sorgen tauchen wieder auf. Wie wird es weitergehen?

Die Dämmerung ist die Zeit des Übergangs. Der Tag neigt sich, die Nacht kommt. Unser ganzes Leben ist ein Sein im Übergang: zwischen Tag und Nacht, Licht und Finsternis. Mal überwiegt das eine, mal das andere. Wir scheuen die Finsternis, in der wir nicht mehr weiterwissen; aber wir können sie nicht aufhalten.

So ist die Nacht auch die Zeit der Tränen (Ps 6,7) und des Flehens (Ps 22,3b; 42,9b). Jakob kämpfte in der Einsamkeit der Nacht einen furchtbaren Kampf mit Gott (1Mo/Gen 32,23-33). Es ist derselbe Jakob, der Jahre zuvor im nächtlichen Traum die Engel vom Himmel steigen sah und dem Gott seinen Segen verheißen hatte (1Mo/Gen 28,10-15).

Darum ist auch die Nacht nicht einfach Finsternis und Grauen (Ps 139,11f). Gott hat auch die Finsternis der Nacht erschaffen (Ps 104,20), und darum gehört ihm die Nacht genauso wie der Tag (Ps 74,16). Die Nacht führt kein Eigenleben ohne Gott. Er ist auch in der Nacht da, wenn alles im Dunkeln liegt, wenn wir einsam sind und furchtbare Gefühle über uns Macht gewinnen.

Weil wir bei dem Gott, der auch in der Nacht bei uns ist, Zuflucht nehmen können, müssen wir den Schrecken der Nacht nicht fürchten (Ps 91,2.5a). Bei Gott Zuflucht zu nehmen, das heißt, ihm unser Leben anzubefehlen. Dann können wir loslassen: die Pflichten, die Sorgen, das Schaffen-müssen, das Grübeln.

Wenn das gelingt, dann kann sogar die Nacht von Gottes Herrlichkeit erzählen (Ps 19,2f). Es war nach dem Lukasevangelium Nacht, als der Engel den Hirten die Geburt des Heilands verkündete und die himmlischen Heerscharen einen Lobgesang anstimmten (Lk 2,8-14). Mag sein, dass auch uns in der Nacht vom Heiland gekündet wird.

Dann wird die Nacht zur Zeit des Heils. So ist auch dem Matthäusevangelium zufolge zur Mitternacht die Wiederkunft des Herrn zu erwarten (Mt 25,6).

Die Zeit des Übergangs vom Tag zur Nacht ist die Zeit zwischen dem Licht und der Finsternis. Die Nacht ist noch nicht da, doch der Tag verabschiedet sich schon. In diesem Übergang liegt die Melancholie des Vergehens.

Dem Vergehen ist unser ganzes Leben unterworfen. Der Tag geht, es kommt die Nacht. Aber es bleibt die Einsicht: Die Nacht bringt nicht nur Schreckliches. Gott kann uns in ihr sogar besonders nah sein. Und die Nacht ist nicht endlos. Nach ihr wird ein neuer Tag beginnen. Eine neue Chance, neue Wege, neues Leben.

Der jüdische Tag beginnt am Abend. Israel hat es oft genug erlebt: Nur durch die Nacht gelangen wir zum Tag. Dem Licht geht die Finsternis voran. Aber auf die Finsternis folgt gewiss das Licht.

Auch Martin Luther wusste um die Anfechtungen der Nacht. Er soll gesagt haben: „In manchen Nächten, wenn ich erwache, ist der Teufel da und will an mich mit dem Disputieren [= diskutieren]. Da habe ich das erfahren: Wenn das Argument nicht hilft, dass ein Christ ohne Gesetz und über dem Gesetz ist [unabhängig von seinen Taten das Heil erlangt], so weise man ihn [den Teufel] flugs mit einem Furz ab.” Luther will sagen: Wenn sich die furchtbaren Gedanken und Gefühle nicht abschütteln lassen, ist es das beste, sie einfach nicht ernst zu nehmen, sondern an den Abort zu verbannen, wohin sie gehören – und sich beharrlich auf Gott zu verlassen, der dich gewiss zum Heil führen wird.

Denn auch die finsterste Nacht wird ein Ende haben (Offb 21,25; 22,5).

So bleibt unser Leben immer ein Leben im Übergang: zwischen Licht und Finsternis, zwischen Angst und Hoffnung, geängstigt und des Heils gewiss. Und auch über diesen Zwischenraum, in dem wir leben, regiert kein anderer als Gott.

Von Klaus Straßburg

Lesen Sie diesen Artikel von Klaus Strassburg auf dessen Blog im Original hier.

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