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Der Clown in der Kirche

Ich bin im Gottesdienst in einer Kirche, wo ich die Sprache nicht verstehe. Aber es wird viel gesungen und ich nehme das Ganze als Meditation.

Etwa zur Hälfte der Zeit kommt ein Mann herein und geht in die vorderste Reihe. Es wird viel gestanden in dem Gottesdienst und so stehen die Gottesdienstbesucher nun auch jetzt. Es dauert, bis der Mann alles sortiert hat, Handy, irgendwas in der Tasche, was weiß ich. Hin und her und hin und her. Und dann ist aber nicht Schluss damit. Er dreht sich um. Zur Seite. Nach links. Nach rechts. Nach hinten. Er winkt jemandem im Chor zu, keine Erwiderung. Er winkt jemandem der Gottesdienstbesucher zu, keine Erwiderung. Das Ganze wiederholt sich ein paar Mal. Er scheint guter Laune zu sein. Überall, wo er hinschaut, sieht er etwas, was ihn offenbar erfreut. So aufregend hier im Gottesdienst, so wirkt es. Wenn man sich den Zeitraum von 9 Sekunden gedanklich einmal vorstellt, schaut er eine Sekunde nach vorne, zwei nach links, zwei nach rechts und vier nach hinten. Ich überlege mir, ob es nicht besser wäre, wenn er sich einen Stuhl nehmen und die Blickrichtung nach hinten ändern würde, dann würde er tendenziell doch mehr nach vorne in die richtige Richtung schauen, als nach hinten. Es ist schwer, sich zu konzentrieren, weil er immer wackelt. Hin und her und hin und her. Nun gut, ich verstehe den Pfarrer ja nicht, aber mit der Konzentration ist es trotzdem aus, mit der Meditation auch. Ich stelle mir vor, dass der Mann, dessen Frisur der eines Clowns nicht völlig unähnlich ist, rote oder grüne Haare hätte und sich nach vorne stellen würde und dort mit Bällen jonglieren würde, um dem Pfarrer Konkurrenz um die Aufmerksamkeit der Gemeinde zu machen. Irgendwann dreht er sich ganz nach hinten, seine Tasche ist heruntergefallen, er hebt sie umständlich auf. Dann bückt er sich nach vorne. Und so weiter.

So geht es etwa 40 Minuten lang. Ich merke, wie mich das ganze stresst. Irgendwann stehe ich mit verschränkten Armen da. Ich denke mir, nein, so ist das auch nicht gut. Ich lasse die Arme wieder normal hängen. Das Ganze wiederholt sich ein paar Mal.

Irgendwann kommt hinten jemand zur Tür herein, eine alte Dame, die sich neben ihn setzt. Die beiden kennen sich. Vielleicht ist es seine Mutter. Er schaut eine Zeitlang weniger nach hinten, sondern zu der Frau, sie reden kurz etwas. Doch dann wieder das gewohnte Muster.

Ich merke an dieser Stelle, wie schwierig es ist, seinen Nächsten zu lieben. Der Mann macht ja nichts Schlimmes, er schaut nur und wackelt. Sein Verhalten ist für einen Gottesdienst nicht adäquat, es ist nicht den Konventionen entsprechend, überhaupt nicht. Es nervt. Es nervt nicht nur mich, es nervt auch andere. Aber er macht nichts Schlimmes. Seinen Nächsten lieben. Seine Feinde lieben. Wie schwer ist das, selbst in so einem einfachen Fall.

Ich höre jemanden, der sagt, dass solche Menschen in sozialen Einrichtungen natürlich willkommen sind, gerade in der Kirche. Ich habe nichts gegen ihn, nur er nervt mich. Ein bisschen Angst habe ich vor ihn, man weiß ja nicht, wie er so tickt. Es scheint, dass er geistig etwas behindert ist.

Wie schnell man doch an seine Grenzen kommt, wie schnell man Vorurteile hat. Nur, weil einer sich unkonventionell benimmt, den Normen nicht entspricht. Seinen Nächsten lieben, das soll man. Hat ja niemand behauptet, dass es leicht wäre.

Würde man diesen Mann näher kennenlernen, würde man seine persönliche Geschichte erfahren und könnte ihn vermutlich auch wertschätzen und lieben. Würde.

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8 Kommentare

  1. Weena

    Würde … Warum nicht einfach hinterher ansprechen?
    Ich kenne es nämlich von der anderen Seite. Mein verstorbener Mann war Rollstuhlfahrer, Glasknochen und dementsprechend nicht wie „normal üblichen“ proportioniert. Da geht auch das Getuschel schnell los. Kinder, die laut fragten: „Mama, warum hat der Mann so kleine Füße?“ wurden mit leisen Befehlen weggezogen.
    Aber alle, wirkliche alle, die meinen Mann kannten, mochten ihn. Er war einfach ein Sonnenschein und der weltbeste Ehemann.
    Upps, wollte ich gar nicht schreiben, nur mal über das Wörtchen „würde“ nachdenken. Nungut, jetzt stehts da.

  2. guyhofmann

    Danke. Sehr lesenswert.
    Wie schnell ist man „genervt“. – Da habe ich über die schwierigeren „Feinde“ (meiner Andacht zu Gott !? ) noch garnicht nachgefühlt.
    Meine geschiedenen Ex-Frauen (zwei),
    die vier meiner sechs Kinder, die mich zur Zeit hassen, missgünstige KollegInnen, das kann noch eine lange Liste werden. Waren nur ein paar Beispiele.
    Jetzt wird es zum öffentlichen Geständnis.
    Danke. Sehr lesenswert.

  3. deingruenerdaumen

    Ich denke, er muss weder nett sein, noch musst Du (man) ihn lieben. Es reicht doch, zu schauen, was brauch ich jetzt, damit es mir besser geht. Gott liebt ihn, ja, ich darf doch irritiert sei durch sein Verhalten, ich muss weder mich noch ihn ver- oder beurteilen.

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